Das Schreyer-Landauer-Epitaph: Teil 1
„Einmaliges Sandsteinbild von St. Sebald in großer Gefahr“[1], so lautete die alarmierende Überschrift eines Artikels der Nürnberger Nachrichten vom 4. Dezember 2019. Die Rede ist vom Schreyer-Landauer-Epitaph (1490–1492), das sich gegenüber dem Rathaus an der Außenseite des Ostchores der Kirche St. Sebald befindet. Das nach seinen zu memorierenden Stiftern Sebald Schreyer und Matthäus Landauer benannte Werk des Bildhauers Adam Kraft, das originär dem Totengedächtnis diente, zählt heute zu den renommiertesten Sehenswürdigkeiten der Stadt Nürnberg. Nun jedoch droht das aus dem Spätmittelalter stammende dreiteilige Sandsteinrelief aufgrund von Rissen in den Konsolen, herabzustürzen, wobei inzwischen als Ursache korrodierende Eisenverankerungen und daraus resultierende Fugenschäden eruiert werden konnten.[2] Infolge dieses prekären Zustands sowie zu Ehren des 500. Todestags von Stifter Sebald Schreyer fand am 1. Oktober 2020 ein Fachkolloquium statt, das sich möglichen Erhaltungsstrategien des Epitaphs widmete. Von diesem aktuellen Diskurs inspiriert möchte sich auch dieser Blogeintrag mit dem gefährdeten Schreyer-Landauer-Epitaph beschäftigen.
Mit der hochformatigen Darstellung der Kreuztragung am rechten Strebepfeiler wird der dreiteilige Passions- und Auferstehungszyklus eröffnet: Im Vordergrund der vielfigurigen Szenerie befindet sich der bereits durch die Dornenkrone auf dem Haupt malträtierte und unter der Last des Kreuzes in die Knie gesunkene Christus. Der Schmerzensmann, bärtig mit lang herabhängendem Lockenhaar am rechten unteren Bildrand dargestellt, trägt eine bodenlange und faltenreiche Tunika mit langen Ärmeln. Er erscheint bei frontaler Betrachtung im Halbprofil nach links gewendet. Sein ruhiger und erschöpfter Gesichtsausdruck mit dem leicht geöffneten Mund kontrastiert mit den zum Schelten weit geöffneten Mündern der ihn umgebenden Figuren.
„Darauf nahm Pilatus Jesus und ließ ihn geißeln. Die Soldaten flochten einen Kranz aus Dornen; den setzten sie ihm auf das Haupt und legten ihm einen purpurroten Mantel um. Sie traten an ihn heran und sagten: Sei gegrüßt, König der Juden! Und sie schlugen ihm ins Gesicht.“ ( Johannes 19,1–3)
„Und er selbst trug das Kreuz und ging hinaus zur sogenannten Schädelstätte, die auf Hebräisch Golgota heißt. Dort kreuzigten sie ihn und mit ihm zwei andere, auf jeder Seite einen, in der Mitte aber Jesus.“ (Johannes 19, 16–18)
Sich mit den Händen am Boden stützend versucht der Heilsbringer, sich aufzurichten, während ihn von mehreren Seiten eine Schergenschar drangsaliert: Ein am rechten Bildrand und hinter dem Erlöser positionierter behelmter Häscher, der in seinen behandschuhten Händen Nägel trägt, stößt ihm mit dem Hammer in die Seite, während ein weiterer hinter dem Kreuz in der rechten Reliefhälfte befindlicher Büttel mit sardonischer Fratze an Christi Haaren zerrt und zum Schlag mit dem Knüppel ausholt. Das Antlitz des Folterers ist zu einer zähnefletschenden Grimasse verzogen, sein Haupt ziert eine turbanartige Kopfbedeckung. Wie Vieh wird der Gottessohn schließlich an einem Strick, der ihm in die Taille geschnürt wurde, von einem Dritten vorwärts – vom Betrachter aus nach links – gezogen. Tiefe Furchen zeichnen das ziegenbärtige Gesicht des dämonisch dreinblickenden Häschers, dessen Kopf perückenartige kurze Locken bedecken. Die Ärmel seiner Tunika sind hochgekrempelt, während sein geöffneter Mund andeutet, dass der Heiland neben den erduldeten Schlägen auch verbal degradiert wird.
Hinter dem im Dreiviertelprofil wiedergegebenen Schergen – und damit am linken Bildrand – steht wiederum eine Rückenfigur mit nach rechts gewendetem Blick. Der Mann trägt eine kapuzenartige Haube mit einer Quaste und treibt die weiteren nach hinten abziehenden Verurteilten mit einer Geißel an. Im linken Hintergrundbereich sind die Köpfe sechs weiterer Männer zu sehen, von denen einer eine Lanze, genauer genommen eine Art Hellebarde, trägt. Hinter dem T-förmigen Kreuz späht außerdem der Kopf einer weiteren männlichen Figur hervor, die Christus dabei hilft, das Kreuz zu tragen. Seinen Arm hat er um den Querbalken geschlungen. Die hinter dem Gottessohn befindlichen Akteure in der rechten Reliefhälfte lassen sich beinahe von einem Dreieck umspannen.
Am linken oberen Reliefrand sind indes, erhöht auf einem Felsen stehend, die trauernde Muttergottes und Johannes zu erkennen. Die zu Boden gesunkene Mutter Christi wird von Letzterem gestützt, der selbst – wie an den schmerzvoll herabgezogenen Mundwinkeln sichtbar wird – von Trauer überwältigt ist. Diese Szene ist wohl analog zu einer Stelle im Johannesevangelium zu lesen, wo es heißt: „Als Jesus die Mutter sah und bei ihr den Jünger, den er liebte, sagte er zur Mutter: Frau, siehe, dein Sohn! Dann sagte er zu dem Jünger: Siehe, deine Mutter! Und von jener Stunde an nahm sie der Jünger zu sich“ (Johannes 19, 26). Die Muttergottes wird von Adam Kraft im Maphorion dargestellt, Johannes mit lockigem Haar. Hinter ihnen erblickt der Betrachter drei weitere Frauenfiguren, von denen sich eine mit einem großen Taschentuch die Nase schnäuzt. Möglicherweise handelt es sich hierbei um einen humorvollen, etwas unkonventionellen Hinweis auf die Vera ikon, das Schweißtuch der Veronika, das auch auf Adam Krafts vierten Station des Kreuzweges zu sehen ist. So war das Spätmittelalter für seine ausgeprägte Reliquienverehrung bekannt. Die im Hintergrund filigran herausgearbeiteten Details, die das obere Drittel des Reliefs dominieren, zeigen schließlich noch einen Menschenzug, der sich aus Jerusalem fort- und in der rechten Hälfte bergab auf den Betrachter zubewegt, während hinter einem zentral situierten Felsvorsprung zwei Reiter erscheinen. Erwähnenswert ist außerdem, dass die Komposition des Reliefs mit dem mittig platzierten T-Kreuz auf einen Kupferstich von Martin Schongauer zurückgeht.
In der Peripherie des Reliefs sind eine Reihe nach links gewendeter Adoranten mit bodenlangen Kleidern sowie Wappen vorgeblendet. Dabei sind die Figuren nicht in das Bildgeschehen integriert. Es handelt sich um den Stifter Matthäus Landauer mit seiner Frau Helena, geb. Rothan, und den beiden damals noch ledigen Töchtern. Dass sie noch unverheiratet waren, wird anhand ihres unverhüllten Haares deutlich. Das mithilfe einer Spitze dreigeteilte Landauer-Wappen besitzt drei gestürzte Lindenblätter mit einem ungekrönten geflügelten Stechhelm als Zimier, das Rothan-Wappen indes zwei voneinander abgewandte Hähne. Gekrönt wird Letzteres von einem dritten Hahn, der mit ausgebreiteten Flügeln auf einem Stechhelm steht.
Literatur:
[1] Voigt 2019 (online).
[2] Vgl. Müller 2020 (YouTube, 16:30).
Bildquellen:
Adam Kraft, Schreyer-Landauer-Epitaph (Gesamtanlage), 1490–1492, Grabskulptur, Reliefplastik aus Sandstein, 2,44 m × 7,11 m, Außenseite des Ostchors von St. Sebald, Nürnberg.
Adam Kraft, Die Darstellung der Kreuztragung am rechten Strebepfeiler des Schreyer-Landauer-Epitaphs (Teilansicht), 1490–1492, Grabskulptur, Reliefplastik aus Sandstein, 2,44 m × 1,5 m, Außenseite des Ostchors von St. Sebald, Nürnberg.
Martin Schongauer, Kreuztragung Christi, vor 1485, Kupferstich, 28,6 cm x 43 cm, Staatliche Museen zu Berlin, Kupferstichkabinett, Berlin.