Die Devotio moderna
Das Spätmittelalter war eine Epoche, die von vielfältigen transformatorischen Prozessen geprägt war: Auf der einen Seite ermöglichte die Innovation des Buchdrucks die Entwicklung des ersten Massenmediums der Menschheitsgeschichte, während der aufstrebende Welthandel zu einer Welle von Städtegründungen führte. Auf der anderen Seite kämpften die Menschen nicht nur gegen eine Hungersnot, sondern auch noch gegen die berüchtigte Mortalitas Magna, wobei gerade Letztere ihre remanenten Spuren hinterließ:
„Die Pest entvölkert und tötet nicht bloß, sie nagt auch an der moralischen Kraft und vernichtet sie oft ganz; [...] Die Zeiten der Pest sind immer die, wo das Tierische und Teuflische im Menschen hervortritt“[1],
wie es ehedem der Althistoriker Barthold Georg Niebuhr formulierte. Neben den horrenden Opferzahlen, die der Schwarze Tod im 14. Jahrhundert forderte, setzten mithin eine zunehmende emotionale Abstumpfung gegenüber dem Tod sowie eine allgemeine Verrohung der Gesellschaft ein, die sich nicht zuletzt in den Judenpogromen und Hexenverfolgungen manifestierte. Schmerz, Gewalt und Tod waren omnipräsent, doch zugleich ging aus der Krise ein Impetus zur Erneuerung und Rehumanisierung hervor: So kam es in den Niederlanden noch im selben Säkulum zu einer Glaubenserneuerung, zur Devotio moderna, bei der die individuelle Verinnerlichung und das persönliche empathische Nacherleben (compassio) der Passion Christi in den Fokus rückten, um die erkalteten Herzen der Menschen neu zu entflammen.
Im Zuge dieser religiösen Erneuerungsbewegung war die mittelalterliche Sakralkunst, auch ars nova genannt, entscheidend vom Prinzip per visibilia ad invisibilia geprägt, wobei das wirkmächtige Diktum im Sinne einer durch die sinnliche Wahrnehmung zugänglichen inneren Erkenntnis ausgelegt wurde, sodass eine affektive Bildwirkung expressis verbis angestrebt wurde.[2] Kunst wurde mithin zum Medium religiöser Erkenntnis, indem der Beschauer innerlich tangiert und emotional vereinnahmt wurde. Zu den renommiertesten Vertretern der altniederländischen Malerei zählen u. a. Jan van Eyck, Rogier van der Weyden und Dieric Bouts – allesamt Künstler, von denen sich auch der Nürnberger Bildhauer Adam Kraft anregen ließ. Im 15. Jahrhundert verbreitete sich die in den Niederlanden praktizierte neue Form der affektiven Frömmigkeit schließlich auch in Deutschland, wo sie von Künstlern wie Hans Pleydenwurff aufgegriffen und weiter entwickelt wurde.[3] Welchen immensen Stellenwert man der von Affekten begleiteten Frömmigkeitsstimmung (affectus devotionis) in jener Zeit beimaß, wird anhand der aus dem 12. Jahrhundert stammenden theologischen Schrift De modo orandi offenkundig, in der Hugo von St. Viktor diese als für das Gebet konstitutive Kraft hervorhebt:
„Jeder Einzelne also, während er im Gebet entweder Psalmen oder irgendwelche anderen Schriften singt, soll sorgfältig bedenken, welchem Affekt sie dienen mögen, und durch ganze Anstrengung sein Herz zu jenem Affekt erregen. Er sagt das, was ihm besser zu dienen scheint, denn wenn er den Affekt erregt durch die Worte, die er sagt, erkennt er durch den Affekt selbst besser die Kraft der Worte. Er erwirbt die Einsicht und entzündet durch die Einsicht der Worte umso mehr den hingebungsvollen Affekt.”[4] (Kap. V).
Dabei konstatieren Anselm Rau und Johanna Scheel eine gerade im 15. Jahrhundert starke Popularisierung der Schrift, vornehmlich im deutschen Raum.[5]
Literatur:
[1] Niebuhr 1838, S. 166 f.
[2] Vgl. Schuppisser 1993, S. 172.
[3] Kehrer 1915, S. 222.
[4] Rau, Scheel 2015, S. 273.
[5] Vgl. Rau, Scheel 2015, S. 271, Fußnote 10.
[6] Schoenen 1967, Sp. 873.
Bildquelle:
Rogier van der Weyden, Kreuzigungstriptychon, 1440–1445,Öl auf Eichenholz, 95,5 cm × 127 cm, Kunsthistorisches Museum, Wien, Quelle: Wikimedia