Le Radeau de la Méduse (1819)
Vorikonografische Beschreibung
Düstere Braun- und gelbliche Inkarnattöne dominieren die Szenerie von Géricaults renommiertestem Ölbild – dem fünf mal sieben Meter großen Monumentalwerk Le Radeau de la Méduse. Mit einer überwältigenden Intensität und Ausdrucksstärke zeigt das Gemälde im Querformat ein Floß im wild schäumenden Meer, darauf verrenkte, ineinander verschlungene Menschenkörper – Tote und noch um ihr Leben Ringende. Es ist ein tragischer, erschütternder Anblick und doch ist dieser sonderbar mit einem Lichtblick der Erlösung verwoben. So wird der größtenteils wolkenverhangene Himmel vom Schimmer der Morgenröte[1] erhellt – und tatsächlich: Folgt man der Blick- und Bewegungsrichtung der wild gestikulierenden Figuren, so ist bei genauerem Hinsehen ein winziger Punkt erkennbar: Dort naht am erleuchteten Horizont ein rettungsverheißendes Schiff.
Das Floß selbst erscheint dürftig zusammengezimmert, auf der linken Seite fehlen bereits Pfosten. Umso bedrohlicher wirken der bewölkte Teil des Himmels und eine von links auf die Schiffbrüchigen zurollende Woge. Mit weißer Gischt bedeckte Wellen umspülen die Vorderseite des Floßes, das Segel ist gebläht und ein am Mast festgebundenes Tuch flattert wild im Wind. An Deck sind mehrere Objekte dargestellt, darunter eine Patronentasche sowie ein Rucksack am linken Rand des Floßes. In der rechten Bildhälfte sind indes ein Beil mit abgebrochenem Schaft, eine Kiste, zwei Weinfässer und ein einzelner quer liegender Holzbalken erkennbar.
Fünfzehn lebende, dicht am Mast zusammengedrängte Personen – allesamt in Lumpen gekleidet – sowie fünf leblose, größtenteils entblößte Körper befinden sich an Bord des Floßes. Dabei haben sich in dem Gewirr zwei Gruppen formiert: Die erste charakterisiert eine gewisse Dynamik und setzt sich aus zwölf Menschen zusammen – dem Großteil der Überlebenden im hinteren Teil des Floßes sowie einem Leichnam. Die meisten der noch Lebenden haben sowohl ihren Leib als auch ihren Blick von dem Betrachter weg auf jenen Punkt gewandt, an dem die verheißungsvolle Rettung naht – so auch drei Figuren, die unmittelbar rechts vom Mast im Schatten verharren. Eine von ihnen hat die Hände zu einer betenden Gebärde verschränkt. Ihr gegenüber steht ein Mann, den Arm in Richtung des Schiffes gestreckt und das Gesicht einem der drei Leidensgenossen zugekehrt.
Im Freudentaumel eine Menschenpyramide formend und die Arme emporreckend versuchen die Rückenfiguren weiter rechts im Bild, sich mit allen Mitteln bemerkbar zu machen. Auf ihrer Spitze steht ein dunkelhäutiger Mann, der um das Handgelenk gewickelte Stofffetzen in den Farben Rot und Weiß schwenkt, während er sich mit einem Fuß auf einem Weinfass stützt. Jemand rechts neben ihm macht es ihm gleich. Hinter dem Schwarzen steht wiederum eine Figur, deren Kopf ein rotes Tuch bedeckt. Sie gibt ihm zusätzlich Halt, indem sie ihn an Taille und Hüfte umschlungen hält, wobei sich die Hände der beiden Männer berühren.
Mit diesem Gedränge der Hilfesuchenden kontrastiert die vorherrschend bewegungslose Gruppe in den vorderen Reihen, die acht Personen umfasst – vier lebende und vier tote. Dabei sind ihre ausgezehrten Körper weitgehend zum Betrachter gedreht. Resigniert sitzt in der linken unteren Bildhälfte ein älterer bärtiger Mann. Seine grauen Haarlocken werden zum Teil von einem langen roten Tuch verhüllt, seine Brust ziert ein Légion-d'Honneur-Verdienstkreuz[2], eine von Napoleon eingeführte Auszeichnung. Der Alte blickt gedankenverloren, seinen Kopf schwermütig auf eine Handfläche gestützt und hält mit dem anderen Arm den entkleideten Leichnam eines jungen Mannes umschlungen. Während der Grauhaarige eine blutgetränkte Armbandage trägt, bedecken die Füße des Knaben eklatante Fußwickel, die wohl als Schutz vor dem Salzwasser fungieren. Die Mimik des sinnierenden Mannes bildet einen Kontrast zum heftig aufgeregten Menschengewühl. In Trauer versunken scheint sich der ältere Mann, im Gegensatz zu seinen Mitreisenden, nicht an der möglichen Rettung delektieren zu können. Zu tief sitzt, so ist nur zu erahnen, der Schmerz über den erlittenen Verlust. Rechts neben ihm verweilt ein junger dunkelhäutiger Mann, dessen Kopf von einem zusammengerollten und im Nacken geknoteten schwarzen Tuch bedeckt wird. Dabei ist sein Blick zum herannahenden Schiff gewandt. Während vor ihm bäuchlings ein toter Körper liegt, kauert hinter ihm ein tief Verzweifelter, der sich von Gefühlen der Aporie erfüllt die Haare rauft. Dahinter findet sich im Schatten unter dem Mast – kaum sichtbar – die Silhouette einer weiteren Person. Zur Gruppe zählen schließlich noch zwei Verstorbene: der Torso eines jungen dunkelhaarigen Mannes links im Bild und ein auf dem Rücken liegender Leichnam in der rechten unteren Bildhälfte. Letzterer ist in ein Leinentuch gehüllt, sein Kopf befindet sich außerhalb der sichtbaren Bildebene.
Literatur
[1] Anm.: Obgleich einige Kunstwissenschaftler von einem Sonnenuntergang sprechen, heißt es im Bericht der Überlebenden Savigny und Corréard, dass die Schiffbrüchigen am frühen Morgen gerettet wurden. Es scheint sich also um einen Sonnenaufgang zu handeln. Vgl. Savigny, Jean-Baptiste Henri; Corréard, Alexandre: Schiffbruch der Fregatte Medusa auf ihrer Fahrt nach dem Senegal im Jahr 1816. Leipzig 1818. S. 75.
[2] Vgl. Eitner, Lorenz: Géricault. His Life and Work. London 1983. S. 199.
Bildquelle:
Théodore Géricault, Le Radeau de la Méduse, 1818–1819, Öl auf Leinwand, 491 cm × 716 cm, Louvre, Paris, Wikimedia
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