Die Entstehung des Film noir

 

Geheimnisvolle, schattenhafte Gestalten auf nächtlichen Straßen, bloße phantomhafte Silhouetten, dazu der Schein der Laternen, der sich im regennassen Pflaster spiegelt. Der Zuschauer taucht ein in eine bedrohliche, unüberschaubare Welt, begegnet letalen Schönheiten – mal in Nebel, mal in Zigarettenrauch gehüllt – und erblickt müde Gesichter im streifig durchbrochenen Licht einer Jalousie. Hollywoods Film noir der 1940er und 1950er Jahre erzählt sinistre Geschichten von menschlichen Abgründen und schicksalhaften Verstrickungen.

“The Americans made it and then the French invented it.”[1] (Marc Vernet)

The Big Combo (dt. Titel: Geheimring 99, R: Joseph H. Lewis, USA 1955)

Auch in der Gegenwart sind die Einflüsse des Film noir omnipräsent – ob in der US-Serie TRUE DETECTIVE, in den Filmen der Coen-Brüder oder in den surrealen Werken von David Lynch. Anders als oftmals angenommen wird, tauchte der Begriff Film noir nicht erst 1946, sondern bereits vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges auf.[2] Kritiker verwendeten ihn für eine Reihe französischer Filmproduktionen, die auf amerikanischen Detektivgeschichten basierten. Dabei war der Terminus stets pejorativ behaftet, denn während Kritiker mit rechter Gesinnung sich um einen durch die Filme ausgelösten moralischen Verfall der französischen Gesellschaft sorgten, fürchteten Autoren linker Publikationen wiederum, dass die „dargestellte soziale Trostlosigkeit möglicherweise faschistoide Kräfte bestärken könnte.“[3]

Als US-amerikanische Filme nach Kriegsende wieder in Frankreich erschienen, gebrauchte der Filmkritiker Nino Frank den Terminus 1946 erstmals für amerikanische Produktionen und vor allem zum ersten Mal in einem positiven Kontext.[4] Inspiriert wurde er bei der Begriffsverwendung vermutlich von der Série noire, einer von Marcel Duhamel 1945 im Gallimard-Verlag gegründeten französischen Reihe von Kriminalromanen amerikanischer Herkunft.

Out of the Past: (R: Jacques Tourneur)

Nino Frank machte erstmals auf eine Reihe von Veränderungen innerhalb des Kriminalfilmgenres aufmerksam, darunter auf eine ungewöhnliche Düsternis der Inszenierung, wobei er sich auf folgende Filme bezog: John Hustons THE MALTESE FALCON (USA 1941), Billy Wilders DOUBLE INDEMNITY (USA 1944), Otto Premingers LAURA (USA 1944) und Edward Dmytryks MURDER, MY SWEET (USA 1944). Er betrachtete die Filme als eine Strömung, eine neue, innovative Form des Kriminal- und Detektivfilm-Genres, darunter als längst überfälligen Nachfolger des in seinen Augen abgenutzten Whodunnit-Konzepts. Zudem lobte er den neuen Realismus und die psychologische Tiefe der Figuren. Der Detektiv sei endlich mehr als „nur eine Denkmaschine.“[5] Trotz all der lobenden Worte glaubte Nino Frank, dass die Filme moralisch verwerflich seien.   

Kurze Zeit später äußerte sich auch Jean-Pierre Chartier über diese neue Art von Filmen, wobei er „die Erzählung in der ersten Person“[6] rühmte. Der Zuschauer fühle sich dadurch, als sei er selbst in die Geschichte verwickelt. Darüber hinaus mangele es den Filmen jedoch an jeglicher Moral. Figuren aus der französischen Schule des Film noir „weckten […] in uns Mitleid oder Sympathie.“ Im amerikanischen Film noir begegneten wir dagegen „Ungeheuern, Kriminellen oder Kranken, die nichts entschuldigt und die einzig aus dem Bösen, das in ihnen steckt, handeln, wie sie handeln.“[7]

Von den zeitgenössischen amerikanischen Kritikern blieb das Noir-Phänomen dagegen lange Zeit unbemerkt. Grund hierfür war eine ökonomische Hybris, die dazu führte, dass man B-Produktionen kaum Beachtung schenkte.[8] Dies änderte sich erst in den 1970er Jahren, unter anderem dank Paul Schraders 1972 erschienenem Artikel „Notes on Film noir.“

 

Literatur:

[1] Zitiert nach: Sellmann, Michael: Hollywoods moderner „Film noir”: Tendenzen, Motive, Ästhetik. Kieler Beiträge zur Anglistik und Amerikanistik. Bd. 17. Würzburg 2001, S. 12.

[2] Vgl. Röwekamp, Burkhard: Vom film noir zur méthode noire. Die Evolution filmischer Schwarzmalerei. Marburg 2003, S. 15.

[3] Zitiert nach: ebd. S. 16.

[4] Vgl. ebd. S. 17.

[5] Frank, Nino: Ein neues Genre des film policier: Der „schwarze Kriminalfilm“. Übers. von Petra Metelko. In: Cargnelli, Christian; Omasta, Michael (Hgg.): Schatten. Exil. Europäische Emigranten im Film noir. Wien 1997. S. 11–14, hier S. 12.

[6] Chartier, Jean-Pierre: Auch die Amerikaner machen Films „noirs“. Übers. von Petra Metelko. In: Cargnelli, Christian; Omasta, Michael (Hgg.): Schatten. Exil. Europäische Emigranten im Film noir. Wien 1997.  S. 15–17, hier S. 16.

[7] Ebd. S. 17.

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