Das Blut des Dichters

 

Bei LE SANG D' UN POÈTE (DAS BLUT EINES DICHTERS, Frankreich 1930) handelt es sich um einen in vier Episoden gegliederten Schwarzweiß-Experimentalfilm, mit dem Jean Cocteau als Regisseur debütierte. Dabei mag der Begriff ‚Poet’ zunächst irreführend erscheinen, da es sich bei dem Protagonisten nicht etwa um einen Dichter, sondern um einen Maler handelt. So bezeichnete Cocteau schlichtweg kreativ-schöpferische Menschen – Künstler im weitesten Sinne des Wortes, unabhängig von der genauen künstlerischen Profession – als ‚Poeten’.[1]

Der Film thematisiert die Entwicklung eines Künstlers auf surreale Weise, wobei das Schicksal seinen Lauf nimmt, als der Protagonist (gespielt von Enrique Rivero) einen Kopf zeichnet, dessen Mund lebendig wird. Bei seinem Bemühen, diesen von der Leinwand zu wischen, bleibt der Mund auf der Handfläche des Malers haften. Beim verzweifelten Versuch, diesen loszuwerden, streift er ihn an einer armlosen Statue[2] ab, worauf diese lebendig wird und nicht mehr von seiner Seite weicht. Während des Films fungiert Cocteau selbst, der das Geschehen reflektierend kommentiert, als eine Art übergeordnete Deutungsinstanz. Der Einsatz deplatzierter Musik dient dabei zur Provokation.[3]

Wie bereits der Titel suggeriert, habe der Künstler in LE SANG D'UN POÈTE für seine Kunst zu bluten, sich dieser mit Herz und Seele zu opfern. Als sich der Protagonist das zweite Mal in den Kopf schießt, weist die Schusswunde auf der Schläfe die Form eines blutigen Pentagramms auf, während eine Nahaufnahme seines Rückens in einer früheren Sequenz eine große, ellipsenförmige Narbe offenbarte, neben der sich ebenfalls ein aufgemaltes Pentagramm befand. Letzteres verwendete Cocteau zeitlebens als sein Signet. Dabei repräsentiert das Symbol nicht nur in der christlichen Ikonografie die fünf Wunden Jesu, sondern auch die fünf schmerzvollen Ereignisse, mit denen der Protagonist im Laufe des Films konfrontiert wird: mit der Flucht des Besuchers, den schockierenden Bildern auf dem Hotelkorridor, dem Tod des Jungen, der Aufdeckung des Betrugs durch die Engelsgestalt und der Reaktion der vornehmen Gesellschaft auf seinen Suizid.

Der sprechende Mund hingegen scheint das Ingenium, die besondere schöpferische Gabe zu verkörpern, die sich eines Tages während des kreativen Akts manifestiert, denn als der Künstler den Mund an einer Statue abstreift, erwacht diese sogleich zum Leben. Es scheint, als habe er ihr gewissermaßen seine Seele eingehaucht – ähnlich wie ein Schriftsteller, der seine Figuren mithilfe der Imagination lebendig werden lässt. Wie eng Leid und Kreativität dabei miteinander verknüpft sind, wird deutlich, als die soeben zum Leben erwachte Statue mokant kommentiert: “Do you think it’s that easy to rid yourself of a wound, to close the mouth of a wound?”[4]

Der Mund einer Wunde – es ist also das Leid, das zu ihm, ja aus ihm spricht: die Kreativität, geboren aus dem Schmerz der Erinnerung – oder wie es zu Beginn von Jay Mayburys Film LOVE IS THE DEVIL: STUDY FOR A PORTRAIT OF FRANCIS BACON (GB 1998) heißt: „Gedanken, Erinnerungen, Bilder, Ideen, wie Granatsplitter kehren sie zu mir zurück und werden hinausgestoßen – als grausame Kopien der Erfahrung.“[5]

Mit einem Hammer beginnt der affektgeladene Künstler sogleich auf die Statue einzuschlagen, bis sein Körper vollständig vom feinen Staub des Marmors umhüllt wird. An dieser Stelle spricht die Voice-over-Stimme eine entscheidende Warnung aus: “When you break statues, you run the risk of becoming one yourself.”[6]

Unmittelbar darauf ist nun tatsächlich eine Statue zu sehen, die von Schnee bedeckt dem staubigen Körper des Malers gleicht. Diese Einstellung bildet den Beginn der dritten Episode “The Snowball Fight“, bei der ein Junge während einer Schneeballschlacht so stark verletzt wird, dass er – einen Schwall Blut erbrechend – elendig verstirbt. Verantwortlich für den tödlichen Wurf ist Dargelos, “the most popular pupil in his class“[7], wie die Voice-over-Stimme offenbart. Offensichtlich handelt es sich bei dieser Episode um eine Kindheitserinnerung des Protagonisten.


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LE SANG D' UN POÈTE gibt es seit 2019 nun auch als Blu-ray.

Literatur:

[1] LE SANG D' UN POÈTE, Timecode: 00:11:43.

[2] Zitiert nach: Von Brincken, Jörg: Grausame Kopien der Erfahrung. John Mayburys Film Love Is the Devil. Study for a Portrait of Francis Bacon. In: Balme, Christopher; Liptay, Fabienne; Drewes, Miriam (Hgg.): Die Passion des Künstlers. Kreativität und Krise im Film. München 2011. S. 61–87, hier S. 61.

[3] LE SANG D' UN POÈTE, Timecode: 00:28:19.

[4] LE SANG D' UN POÈTE, Timecode: 00:31:55.


[5] Vgl. Camille P-LB: Jean Cocteau speaks to the year 2000, subtitled – 1962. 2014, Timecode: 7:43.

            https://www.youtube.com/watch?v=z-x-wNiN4Hk (05.08.2016).

[6] Anm. Offenbar handelt es sich hierbei um die berühmte Venus von Milo.

[7] Vgl. Cocteau, Jean: Kino und Poesie. Notizen ausgewählt von Klaus Eder. Frankfurt am Main 1989,

    S. 147.

 
Katharina LoskaKommentieren